Archiv für den Monat: Dezember 2013

Hanns-Josef-Ortheil: „Die Erfindung des Lebens“ …

… ist eine Geschichte über die Findung im Leben, ein autobiographischer Roman über die Findung in Sprache.

Eine Geschichte über einen stummen Jungen, der im Köln der Nachkriegszeit mit einer traumatisierten Mutter aufwächst und der es mit sieben Jahren in der Umgebung der Großfamilie im Westerwald schließlich schafft,  sich seiner Sprache zu bemächtigen. In dem Johannes seine Töne findet, findet er auch auf neue Weise zu sich selbst – und damit in sein eigenes Leben hinein. Dieses Erschließen des Lebens über ZeOrtheil_Spracheichen-Töne-Zeichen, ist der rote Faden dieses autobiographischen Rückblicks, für den sich der Autor noch einmal nach Rom zurückgezogen hat. Denn Rom hat ihn auch verbunden, hat ihm eine Welt eröffnet. Rom verbindet die Hauptfigur in dreifacher Weise: beruflich, emotional und reflektierend.

Zeichen spielen von Beginn an einen Rolle, denn wer nicht spricht – weil mit ihm mütterlicherseits nicht gesprochen wird – ist auf Zeichen angewiesen um zu überleben, insbesondere vielleicht auf Schriftzeichen. Das Alter Ego von Hanns-Josef Ortheil, ist auf unheilschwangere Weise mit seiner Mutter verbunden, emotional sehr eng, doch ohne Töne: Die (musikalische) Mutter spricht nicht mit ihm, „Mutter liest“, und zwischen den beiden wird über Zettel kommuniziert. Über wie unter der spürbaren emotionalen Nähe zwischen Mutter und Kind schwebt ein Trauma …

Es ist zwar eine außergewöhnlich schiefe Dreieck-Situation – stumme Mutter, stummes Kind und versorgender Vater – gleichzeitig es ist in anderer Hinsicht modern bemerkenswert für die damalige Zeit. Denn als die Einschulung ansteht und der Rektor sagt: „Ein stummes Kind wie Johannes ist eine Zumutung für unsere Schule …“, nimmt der Vater die Verantwortung für die Erziehung in die Hand: Er entreißt den Sohn der sprachlosen Symbiose mit der Mutter – beide liebt er übrigens – und bringt ihn auf die großelterliche Hofwirtschaft im Westerwald. Die Leistung des Vaters „… bestand darin, mich von der Mutter und dem einsamen Leben mit ihr zu trennen und in eine Gemeinschaft zu setzen, in der ich eine Aufgabe hatte“, schreibt Johannes aus der spätrömischen Perspektive. Eine vermessen anmutende Intervention, die sich jedoch bald schon als Rettung erweist, denn Johannes entdeckt eine äußere wie innere Ressourcenlandschaft.

Schließlich ist der sprachauslösende Moment ein ganz ruhiger, in dem zwei Kinder einen Fußball kommunizieren: „… das zu sehen, dieses ruhige Kicken, keinen Streit, kein Sprechen, nur dieses Kicken, hin und her“ setzte offenbar einen ent-scheidenden Impuls, brachten den Siebenjährigen in „eine kleine Bewegung nach vorn“ und ent-wickelte dessen Zunge – mit einem Aufrufungszeichen: „Gebt mal her!“. In der Folge gerät auch bei dem aufgetrennten Familiensystem etwas in Bewegung und der Dreiecksprozess entwickelt sich auf einer höheren Oktave.

Es mag Leser und Leserin wundern oder eben nicht, dass ein Vermessungsingenieur das passende Maß findet, sein stummes Kind und seine stumme Ehefrau in ihr dreier Leben (zurück) zu bringen. Jedoch ist der Vater bei aller klaren Ordnung sehr Natur verbunden, weil ländlich geprägt, und damit schafft er es offenbar, das System Familie bzw. deren Elemente in förderliche Kontexte zu balancieren.

Es sei noch verraten, dass das Klavierspiel – eine Kunstfertigkeit der Mutter ursprünglich – ein feste und damit auch verbindende Größe der Hauptfigur ist: zu Beginn schon Köln, dann auch im Westerwald und ganz besonders in Rom. Dort konstelliert sich im letzten Teil des Romans sein fundamentales Dreieck: Liebe, Musik und Schreiben. Und: Hanns-Josef Ortheil scheut das gute Ende nicht …

[Die Rezension erschien in SyStemischer – Die Zeitschrift für systemische Strukturaufstellungen, 4/2013, S.98]